Rein rechnerisch stehen in Brandenburg für alle Bewerber Lehrstellen zur Verfügung. Trotzdem bleiben Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Was sind die Gründe dafür?
Nicht jeder Jugendliche hat klare Vorstellungen, welchen beruflichen Werdegang er einschlagen möchte. Es fehlt einerseits an Wissen, was einzelne Berufe beinhalten, andererseits bestehen Berufswünsche, die mit den Leistungen der Schulabgänger nicht erreichbar sind. Die Berufsorientierung im Elternhaus und in der Schule muss sich ganz erheblich verbessern.
Wie viele Ausbildungsplätze bietet das Handwerk im Kammerbezirk und wie viele blieben zuletzt unbesetzt?
Ostbrandenburgische Handwerksbetriebe bieten pro Jahr zwischen 1.000 bis 1.200 Lehrstellen an. 2016 blieben zum 1. Oktober rund 250 Lehrstellen unbesetzt. Die Situation in den Jahren 2015 und 2014 war mit mehr als 300 unbesetzten Lehrstellen und 909 Ausbildungsbetrieben ein wenig schlechter. Derzeit bilden von unseren 11.800 Mitgliedsbetrieben nur knapp neun Prozent aus – genau sind es 959 Handwerker. Wir können von 1.200 Mitgliedsbetrieben sprechen, die regelmäßig, nicht selten in Intervallen, Lehrlinge ausbilden. Wie viele Bewerber im Handwerk abgelehnt werden und wie viele Jugendliche sich auf eine Lehrstelle bewerben, darüber erhalten wir keine Mitteilung von den Mitgliedsfirmen.
Was sind denn die Ansprüche, von denen oft von Seiten der Handwerksunternehmen die Rede ist, denen junge Leute heute oft nicht genügen?
Neben Tugenden wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Einsatzbereitschaft, Neugier und Ausdauer fordern Unternehmer zu Recht gute, zumindest befriedigende Leistungen in Deutsch, Mathematik und in Fächern wie Physik, Chemie und Biologie. Allerdings ist das Bildungsniveau aus unserer Sicht gesunken. Zwar werden mehr als 70 Prozent der angebotenen Lehrstellen durch Schüler besetzt, die, wie es heißt, keine Ausbildungsnachteile haben, bei denen die Ausbildungsreife aber häufig nicht zufriedenstellend ist. Firmeninhaber, Meister und Ausbilder kümmern sich dann nachträglich darum, dass diese das erforderliche Niveau erreichen. Dazu kommen Jugendliche, die mit hohem Aufwand und Förderprogrammen der Agentur für Arbeit betreut werden.
Welche Rolle spielen die Noten der Bewerber für die Unternehmen?
Noten sind ein wichtiger Maßstab, sie spiegeln das vorhandene Wissen der Bewerber wider. Wir hören inzwischen jedoch oft, dass heute Schulabgänger mit Noten von 3 bis 4 genommen werden, wo man noch vor 20 Jahren auf Noten von 2 bis 3 Wert legte. Betriebe entscheiden sich aber auch für Schulabgänger mit schlechteren Noten, um die Lehrstelle zu besetzen.
Warum irrt mancher Jugendlicher, wenn er denkt, dass er beispielsweise Mathematik nicht braucht, wenn er später „nur“ Fliesen legen, jemandem die Haare schneiden oder an Autos schrauben will?
Weil er individuelle Angebote, Produkte, Lösungen nur durch genaue Arbeit, präzises Denken und eigene Entwürfe herstellen kann. Wer nur Knöpfe drücken will, hat es im Handwerk schwer.
Wie viele Ausbildungsberufe gibt es in der Kammer? Welche sind die Neuesten?
Von insgesamt 136 Lehrberufen im Handwerk bilden unsere Mitgliedsbetriebe in 82 Berufen aus. Neue Berufe gibt es kaum. Eher sind in den vergangenen Jahren Berufe zusammengeschlossen worden – wie im Sanitär- und Heizungsbereich der Anlagenmechaniker SHK – oder inhaltlich neu geordnet, also den neuesten technischen Entwicklungen angepasst worden wie der Kfz-Mechatroniker.
Welche Betriebe haben es besonders schwer, geeignete Bewerber zu finden?
Leider trifft es gerade die traditionellen Berufe Bäcker, Fleischer und inzwischen auch den Friseur. Im produzierenden Handwerk sowie im Bauhandwerk ist die Bewerberdecke in den vergangenen Jahren ziemlich dünn geworden.
In welchen Berufen ist es derzeit viel einfacher, Lehrstellen zu finden, weil sie nicht so begehrt sind?
Mir fällt da z. B. der Beruf des Gebäudereinigers ein. Hier gibt es genug Ausbildungsangebote und nur wenige interessierte Bewerber. Ausreichende Lehrstellen gibt es bei den Elektrikern, bei den Anlagenmechanikern für Sanitär-Heizung-Klimatechnik, bei den Kfz-Mechatronikern und bei den Metallbauern. Eine steigende Zahl an Lehrstellen registrieren wir derzeit im Baugewerbe.
Oft gibt es den Wunschberuf nicht um die Ecke. Warum ist es für junge Leute wichtig, mobil zu sein?
Den Handwerksbetrieb gibt es schon um die Ecke. Daher „Die Wirtschaftsmacht von nebenan“. Nur die Theorieausbildung ist oft weiter weg. Aber Mobilität ist ein entscheidendes Kriterium. Der Lehrling muss nicht nur pünktlich im Betrieb sein, sondern auch regelmäßig zur Berufsschule und zu den überbetrieblichen Lehrgängen fahren. Wir sind seit einigen Jahren in Gesprächen mit Landesministerien und Arbeitsagenturen, um die Bedingungen für Mobilität von Lehrlingen auch im ländlichen Bereich zu verbessern. Bis jetzt wurden dafür kaum Lösungen gefunden. Künftige, zu finanzierende, Ideen dürfen keinesfalls zu Lasten der Auszubildenden gehen. Betriebe unterstützen immer öfter die Jugendlichen – durch Fahrgemeinschaften mit der Belegschaft, durch das Sponsoring der Fahrerlaubnis oder entsprechende Arbeitszeitmodelle.
Stichwort Entgegenkommen: Wie versuchen Betriebe an Azubis zu kommen?
Sie sind zunehmend bereit, den Bewerbern einiges mehr zu bieten, als noch vor Jahren. So werden anteilig die Kosten für die Schulbücher erstattet oder Zuschüsse zu den Fahrkosten zur Berufsschule gezahlt. Rund 70 Prozent der Ausbildungsbetriebe zahlen die Vergütung nach den tariflichen Empfehlungen und Sätzen in voller Höhe, obwohl die Möglichkeit besteht, bis zu 20 Prozent von den Tarifen abzuweichen, sofern es keinen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für das Gewerk gibt. Das war bisher nicht immer üblich. Im Weiteren ist auffallend, dass Betriebe bereit sind, die Lehrlinge während der Ausbildung für einen Lehrlingsaustausch ins Ausland freizustellen. Gute Chancen bei der Bewerberauswahl haben die Unternehmen auch, wenn sie bereits bei Vertragsbeginn eine anschließende Beschäftigung im Betrieb anbieten. Das Extra kann entscheidend sein. Ich denke, dass Jugendliche darauf achten, welche Konditionen der Betrieb zusätzlich zu den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen bietet. Das spricht sich unter Schulabgängern über die Jahre rum.
Ist es hilfreich, sich direkt beim Meister oder bei der Meisterin zu bewerben?
Der persönliche, direkte Weg in die Werkstatt ist die halbe Miete. Das Gespräch suchen, Praktikum und Schnuppertage vereinbaren – da lernen sich beide Seiten schnell kennen und einzuschätzen. Das ist die Chance für junge Leute, die nicht so tolle Noten haben. Sie können sich von ihren starken Seiten zeigen. Das erkennen die erfahrenen Meister und Ausbilder sofort. Was nicht geht: Die Eltern fragen bzw. erkundigen sich für ihr Kind.
Was unternimmt die Handwerkskammer, um junge Leute bei der Suche nach Lehrstellen zu unterstützen?
Wir können helfen, denn wir haben Kontakte und wissen, welcher Betrieb gut ausbildet und ein zuverlässiger Partner in der Ausbildung ist. Und wir vermitteln Praktika, die wir absolut empfehlen, weil sie der optimalste Weg für Schüler und Betrieb sind, sich zu finden. In der Berufsorientierung an Schulen haben wir erreicht, dass es die Werkstatttage im Betrieb prinzipiell geben wird. Auch das Altbewährte ist gut: Persönliche Kontakte zu den Schülern in den Schulen und auf Messen. In die Arbeit mit den Eltern werden wir unbedingt mehr investieren müssen. Leider kommen wir an diese schwer heran. Zudem beraten wir unsere Betriebe z. B. zum Ausbildungsmarketing.
Mehr als die Hälfte der rund 19.000 Schulabgänger in diesem Sommer wird sich laut Prognose des Landes wohl für eine berufliche Ausbildung entscheiden. Was tun das ostbrandenburgische Handwerk und die Kammer, um das Potenzial in der Region für sich zu gewinnen?
In Ostbrandenburg haben wir stabil 5.000 Schulabgänger, von denen rund 1.500 zum Studium gehen. Von den anderen 3.500 beginnen zwischen 1.300 bis 1.500 eine Ausbildung in Industriebetrieben und im Handel oder in Büros und rund 800 im Handwerk. Es sind also noch 1.500 Schulabgänger, die wir auf die Chancen im Handwerk – auch mit dem dualen Studium für Abiturienten – aufmerksam machen wollen. Ohne aktive Betriebe geht das allerdings nicht. Nur wenn diese Lehrstellen anbieten, Konditionen transparent machen, Karrieren klar kommunizieren, hat das Handwerk gegenüber Bundeswehr, Polizei und öffentlichem Dienst gute Chancen.